Die Geschichte eines Heftes

Dalia, Litauen

Wie viele Wege gibt es zu Gott? So viele, wie es Menschen gibt (Ratzinger, Joseph Salz der Erde, Heyne Verlag, S. 35). Anhand dieser Worte des damaligen Kardinals Ratzinger möchte ich mich an meine Schritte bis zum heutigen Tag erinnern.

Schon als Jugendliche entdeckte ich, was Gott mir Jahre später noch deutlicher zeigen würde: die Botschaft des hl. Josefmaria und die Heiligkeit mitten in der Welt. Ich bin in Alytus aufgewachsen, einer Kleinstadt in der Gegend von Dzukija im Südosten von Litauen, die inmitten von Wäldern und Seen liegt. Ich habe eine Schwester und einen Zwillingsbruder. Seit wir klein waren, haben meine Mutter und meine Großmutter uns im Glauben erzogen, und trotz aller Schwierigkeiten haben sie darauf geachtet, dass wir jeden Sonntag zur Messe gehen konnten. Das bedeutete für uns drei Kilometer Fußweg und weitere 17 Kilometer mit dem Bus. Es war noch zur Zeit der Sowjetrepublik, in der die Regierung die praktizierenden Gläubigen verfolgte und die Veröffentlichung und den Besitz religiöser Literatur verbot. Trotzdem gab es Menschen, die ihr Leben riskierten, um den Glauben lebendig zu erhalten. Ich erinnere mich an Freundinnen meiner Mutter, die ab und zu in unser Haus kamen. Sie hatten Bücher geistlichen und frommen Inhalts dabei, die mit der Hand abgeschrieben oder heimlich maschinell kopiert worden waren. Sie überließen sie uns eine Weile, damit wir sie lesen konnten.

Zwischen 1982 und 1985 kam auf diese Weise ein Heft in unser Haus, in dem auf litauisch Punkte aus dem Weg, einem Buch des hl. Josefmaria, standen. Wir erinnerten uns überhaupt nicht mehr daran, bis wir im vergangenen Sommer das Haus meiner Mutter aufräumten und zufällig ein Heft fanden, in das meine Schwester Rima eine kurze Notiz über den Verfasser und die Punkte 437 bis 699 vom Weg geschrieben hatte. Es bereitete mir eine ungeheure Freude, diese Gedanken zu lesen, die ich inzwischen so gut kenne und so sehr liebe. Während jener Jahre hatten wir keine Ahnung vom Opus Dei; wir wussten nicht, wer Josemaría Escrivá war, aber auf irgendeine Art und Weise wurde er damals schon Teil unserer Familie. Meine Mutter sagt uns immer, dass sie auch in diesen schwierigen Jahren des Kommunismus bereits die feste Überzeugung hatte, dass jeder Mensch zur Heiligkeit berufen ist.

Jahre später lernte ich das Opus Dei kennen. Ich wohnte in der Hauptstadt Vilnius und ging, angeregt durch meine Nichte Justina, zum ersten Mal in ein Zentrum des Werkes. Ich erinnere mich noch an die Freude und Herzlichkeit, mit der man mich empfing, und auch, dass es mich sehr beeindruckte, Mädchen und Frauen zu erleben, die ihren Glauben konsequent lebten. Ich war jedoch so beschäftigt mit meiner Arbeit und einem Studium, das ich begonnen hatte, dass ich nicht häufig zu diesem Haus ging.

Ansicht des Heftes, in das während der kommunistischen Herrschaft mehrere Punkte aus dem <i>Weg</i> auf litauisch geschrieben wurden. Nach dem Namen des Verfassers, dem Buchtitel und den Verlagsangaben steht: Der Verfasser wurde 1902 in Spanien geboren.

Kurz darauf wurde bei meinem fünfzehnjährigen Neffen Leukämie festgestellt. Das war ein harter Schlag. Wir setzten alles ein, damit er von den besten Spezialisten behandelt wurde. Neben den menschlichen griffen wir auch zu den übernatürlichen Mitteln und baten viele Menschen um ihr Gebet für seine Heilung. Einige Tage vor dem 26. Juni 2009 sagten uns die Ärzte, dass die Krankheit verschwunden sei und der Junge sein normales Leben wieder aufnehmen könne.

Mir ist klar, dass Gott mir diesen Stoß versetzt hat, damit ich wach wurde. Ich entschloss mich, wieder zu den Bildungsmitteln im Zentrum des Opus Dei zu gehen.

Aber die Geschichte ist hier noch nicht zu Ende. Ich war – und bin es weiterhin – sehr dankbar für alles, was ich empfing und wünschte, dass viele Leute das Leben und die Botschaft des hl. Josefmaria kennen lernen. So fingen wir bald an, Fahrten zu meiner Heimatstadt, Alytus, zu machen und dort Veranstaltungen anzubieten. Ich schlug meinen Freundinnen vor, uns jeden Monat zu treffen, um ein Glaubensthema zu besprechen und unsere Freundschaft zu vertiefen. Diese Idee gefiel ihnen und wir verabredeten uns für den nächsten Monat. Einmal nahm ich eine Freundin - sie heißt auch Dalia - mit, die Theaterschauspielerin ist. Ich bereitete einen Kommentar zu einer Homilie aus Freunde Gottes vor und Dalia überlegte sich die passenden Textauszüge. Es kamen wahrhaftig 13 Personen zu dem kleinen Raum, den wir gemietet hatten, die vom ersten Mal und Freundinnen von meinen Freundinnen. Sie waren alle sehr interessiert und baten uns, wir sollten über die christlichen Tugenden sprechen.

Inzwischen haben wir auch mit einem monatlichen Einkehrtag angefangen. Der erste hat im Juni stattgefunden, und zwar in der Schutzengel-Kirche. Da der Pfarrer ihn in der Sonntagsmesse angekündigt hatte, waren entsprechend mehr Leute gekommen. Wir brachten einige Bücher des hl. Josefmaria mit. Nach kurzer Zeit waren sie schon weg, und wir mussten versprechen, uns beim nächsten Mal besser auszustatten. Eine der Teilnehmerinnen, Grazina, erzählte uns von einem Gebetszettel des damals seligen Josefmaria, den sie seit zehn Jahren hat. Obwohl sie eigentlich nichts von ihm wusste, betete sie oft zu ihm.

In diesem Jahr des Glaubens haben wir mehrere Kurse über Artikel des Credo gehalten. Ich staune angesichts der Fruchtbarkeit der vom hl. Josefmaria ausgestreuten Saat, die ich vor 30 Jahren in einem Heft entdeckt hatte.