Vortrag zur Eröffnung des theologischen Symposions „Heiligkeit und Welt“ über den Gründer des Opus Dei

Dieser Vortrag vom damaligen Präfekten der Glaubenskongregation, Joseph Kardinal Ratzinger, eröffnete das Symposion, das von der theologischen Fakultät des ‘Römischen Atheneums vom Heiligen Kreuz’ vom 12. bis 14. Oktober 1993 an seinem Sitz, ‘Palazzo Apollinare di Roma’, abgehalten wurde.

Dieser Vortrag vom damaligen Präfekten der Glaubenskongregation, Joseph Kardinal Ratzinger, eröffnete das Symposion, das von der theologischen Fakultät des Römischen Atheneums vom Heiligen Kreuz vom 12. bis 14. Oktober 1993 an seinem Sitz, Palazzo Apollinare di Roma, abgehalten wurde.

„Mitten in den Drangsalen der Erde wächst der Lobpreis. Um den Thron Gottes steht ein wachsender Chor von Geretteten, deren Leben selbstvergessene Bewegung der Freude, der Verherrlichung geworden ist. Dieser Chor singt nicht nur im Jenseits; er bereitet sich mitten in der Geschichte vor und ist verborgen in ihr schon da. Das wird ganz deutlich an der Stimme, die vom Thron her, das heißt aus der Verborgenheit Gottes selber kommt: Lobt Gott, ihr Knechte Gottes, ihr Gottesfürchtigen, ihr Großen und ihr Kleinen (Offb 19,5). Das ist eine Aufforderung in diese unsere Welt herein, das Eigentliche zu tun und so schon jetzt der Liturgie der Ewigkeit zuzugehören.“

Dies sind Worte aus meiner Predigt, die ich vor etwas mehr als einem Jahr in einer der Dankmessen zur Seligsprechung von Josemaría Escrivá gehalten habe. Es war nur folgerichtig, bei dieser Gelegenheit die himmlische Liturgie anzusprechen, denn jede Seligsprechung stellt einen Akt dar, durch den die Kirche die Einheit von Himmel und Erde verkündet, indem sie anerkennt, daß eines ihrer Kinder verdient hat, in das Innere Gottes einzutreten. Das christliche Volk, welches auf Erden unter manchmal großen Schwierigkeiten und Bitternissen unterwegs ist, weiß, daß es Teil einer umfassenderen Wirklichkeit ist: der Stadt der Heiligen, die, auf der Erde begonnen und vorbereitet, einst den ganzen Himmel ausfüllen wird.

Es war – ich sage es noch einmal – nur logisch, daß in der Dankmesse für eine Seligsprechung diese Zukunftsperspektiven des christlichen Glaubens angesprochen und ins Gedächtnis gerufen wurden. Ist nicht gerade die Eucharistiefeier der Moment, in dem die Kirche mit größerer Tiefe und Verbundenheit diese Einheit von Himmel und Erde bekennt und lebt, von der alle Selig- und Heiligsprechungen künden? Nun, ist es denn gleichermaßen angebracht, an solche Perspektiven auch zu Beginn eines wissenschaftlichen Kongresses zu erinnern? Ist eine Versammlung zu Studienzwecken der geeignete Ort für mystische und fromme Betrachtungen? Oder scheint es nicht eher der Augenblick zu sein, dem wissenschaftlichen Denken Raum zu geben, sei es im Sinne der historischen Untersuchung - sprich kritischen Analyse - von Texten aus der Vergangenheit, sei es im Sinne eines zielgerichteten Gedankenaustausches, der präziser Begriffe und schlüssiger Beweise bedarf?

Die Theologie, eine Wissenschaft im Vollsinn des Wortes, ist sicher eine Frucht wissenschaftlichen Denkens. Trotzdem ist es nicht fehl am Platz, in diesem Zusammenhang die Wirklichkeit des Himmels zu erwähnen; man muß es im Gegenteil tun, da sich die Theologie nur aus dieser Perspektive überhaupt verstehen läßt. Thomas von Aquin drückte dieses Faktum in einem zu Recht berühmten und häufig wiederholten Satz aus: Die Theologie ist eine Wissenschaft, die der Wissenschaft Gottes und der Heiligen untergeordnet ist.

Diese Behauptung setzt aristotelisches Gedankengut voraus, konkret die Texte des Stagiriten, in denen er erläutert, daß die Wissenschaften keine unverbundenen intellektuellen Welten darstellen, sondern Kenntnisse, die miteinander verknüpft sind in der Weise, daß einige von ihnen in anderen ihr Fundament haben und ihnen daher untergeordnet sind. Diese Überlegungen zu der Verwiesenheit der Wissenschaften aufeinander wurden von Thomas von Aquin rezipiert, um die Theologie zu begründen.

Der Christ ist ein homo viator, ein Mensch auf der Wanderschaft, der Gott nicht sieht, auch wenn ihm durch das Wort der Offenbarung Einblick in das Geheimnis gewährt wird. Er weiß also, jedoch in Abhängigkeit vom Wissen eines anderen. Die Theologie, die aus dem Glauben erwächst, ist definitiv dem Wissen, das Gott von sich selbst hat und das die Heiligen schon unmittelbar und endgültig genießen, untergeordnet.

Der heilige Thomas wollte mit dieser Überlegung hervorheben, daß die Sehnsucht nach Wahrheit, die im Herzen jedes Menschen – und noch mehr jedes Christen – wohnt und aus der die Theologie hervorgeht, nicht die Frucht einer Illusion, eines bloßen Wunsches ist, dazu verurteilt, für immer unbefriedigt zu bleiben; sie ist vielmehr Ausdruck einer Fähigkeit, die Gott in unseren Geist eingeschrieben hat und die er eines Tages selbst erfüllen wird. Die Theologie wird einmal in Anschauung übergehen, in jene beseligende Schau, die für die Heiligen bereits Wirklichkeit ist

Aber die Betrachtung der Theologie als einer dem Wissen Gottes und der Heiligen untergeordneten Wissenschaft beinhaltet nicht nur eine eschatologische Spannung. Es existiert in der Tat eine Spannung auf die endgültige Erfüllung hin, auf den Moment hin, in dem die im Wort empfangene, teilweise erkannte Wahrheit vollständig enthüllt wird, also auf die Situation der Heiligen im Himmel hin. Dieses Verständnis von Theologie schließt aber kraft ihres eigenen Begriffs eine Beziehung zur lebendigen Vereinigung mit Gott ein, die schon auf der Erde denjenigen möglich ist, die sich im Glauben dem Wort Gottes öffnen und es sich nicht nur mit dem Verstand, sondern mit ganzem Herzen zu eigen machen. Denn Gott ist zu gleicher Zeit und untrennbar Wahrheit, Güte und Schönheit, und die einheitsstiftende Kraft der Liebe führt den Menschen dazu, sich nicht nur von seiner Güte durchdringen zu lassen, sondern auch, sich in seine Wahrheit zu versenken.

Der Theologe muß ein Wissenschaftler sein, aber auch und gerade als Theologe ein betender Mensch. Er darf sich nicht nur mit der geschichtlichen Entwicklung und dem Fortschritt der Wissenschaften befassen, er muß auch – und weit mehr – auf das Zeugnis dessen achten, der den Weg des Gebetes bis zum Ende durchschritten und damit schon hier auf der Erde die höchsten Stufen der Vereinigung mit Gott erreicht hat. Mit anderen Worten, auf das Zeugnis jener, die wir im normalen Sprachgebrauch als Heilige bezeichnen. Gott zu begreifen, so bezeugen die Heiligen, ist – wie ich schon bei einer anderen Gelegenheit ausgeführt habe – „der Bezugspunkt des theologischen Denkens, der seine Rechtmäßigkeit verbürgt. Die Arbeit des Theologen ist in diesem Sinne immer „sekundär“, relativ auf die reale Erfahrung der Heiligen hin. Sie verliert ohne diesen Bezugspunkt, ohne die innerste Verankerung in solcher Erfahrung ihren Realitätscharakter“ (J. Ratzinger, Auf Christus schauen, Herder, Freiburg 1989, S. 35-36). Theologie zu betreiben, sich der theologischen Forschung und Lehre zu widmen heißt nicht, sich mit einer kalten, seelenlosen Arbeit zu beschäftigen, sondern sich einem Gott zuzuwenden, der die Liebe ist und zu dem man nur in Liebe Zugang hat.

Die moderne Theologie hat den Bruch zwischen Theologen - reinen Wissenschaftlern - und Charismatikern-spirituellen Menschen-, der zu Beginn der Neuzeit eingetreten war, überwunden. Und noch radikaler hat sie jenen ausgeprägten Intellektualismus abgestreift, zu dem das Gedankengut der Aufklärung letztendlich geführt hat. Heute verkündet sie erneut die enge Verbindung zwischen Theologie und Spriritualität, wodurch sie sich wieder in den großen christlichen Traditionsstrom einfügt. Nichts liegt daher näher, als das Jahr, in dem eine Seligsprechung gefeiert werden soll, in einer Studientagung gipfeln zu lassen. Daher habe ich in den Einführungsworten zu diesem Kongreß gerade die himmlische Liturgie angesprochen, den Chor der Engel und Heiligen, die bereits zur Schau Gottes gelangt sind, da nämlich die Theologie aus dieser Schau – und ihrer Vorausnahme im beschaulichen Gebet – ihre Nahrung nimmt.

Es ist angebracht, besser gesagt notwendig, daß wir als Theologen das Wort der Heiligen hören, um ihre Botschaft aufzunehmen. Diese Botschaft ist vielgestaltig, denn es gibt zahlreiche Heilige, und jeder von ihnen hat sein besonderes Charisma erhalten. Gleichzeitig ist diese Botschaft eine einzige, denn die Heiligen verweisen uns auf den einzigen Christus, mit dem sie uns verbinden und dessen Reichtum sie uns immer tiefer verstehen lehren. Welchen Schwerpunkt setzt in dieser zugleich vielfältigen und einheitlichen Symphonie, die - so hätte Mohler es ausgedrückt - die christliche Tradition bildet, Josemaría Escrivá? Welchen Impuls gibt er der Theologie mit seinem Wissen? Es kommt mir nicht zu, diese Fragen jetzt zu beantworten; die Referenten des Symposions werden ihre persönlichen Gedanken dazu beitragen, die vervollständigt werden von den Reflektionen jener, die teilhaben am Geist von Josemaría Escrivá und die sich im Laufe der Jahre in Zusammenhang mit seiner Botschaft der theologischen Forschung und Lehre widmen.

Es existiert aber eine Wirklichkeit, die man nicht übersehen kann, wenn man sich mit dem Leben oder den Schriften von Msgr. Escrivá de Balaguer beschäftigt, und das ist ein wacher Sinn für die Gegenwart Christi. „Entzünde deinen Glauben. - Christus ist keine vorübergegangene Erscheinung. Keine Erinnerung, die sich in der Geschichte verliert. Er lebt! Jesus Christus heri et hodie, ipse et in saecula! sagt der heilige Paulus. Jesus Christus gestern und heute und immer!“, schreibt er im Weg, Nr. 584. Dieser lebendige Christus ist zudem ein naher Christus, ein Christus, in dem durch einfache und gewöhnliche Aspekte des menschlichen Lebens die Macht und Majestät Gottes gegenwärtig werden.

Man kann also bei Josemaría Escrivá von einer ausgeprägten und einzigartigen Christozentrik sprechen, in der die Betrachtung des irdischen Lebens Jesu und die Betrachtung seiner lebendigen Gegenwart in der Eucharistie zur Entdeckung Gottes und von Gott her zu einer Erhellung der gewöhnlichen Lebensumstände führen. So lesen wir in einer seiner Homilien: „Indem Jesus wie einer von uns aufwächst und lebt, offenbart Er uns, daß das menschliche Dasein, das gewöhnliche und alltägliche Tun einen göttlichen Sinn hat. Sooft wir diese Wahrheit auch betrachtet haben mögen, immer wieder sollte uns der Gedanke an die dreißig Jahre seines verborgenen Lebens in Staunen versetzen, jene dreißig Jahre, die den größten Teil seines Wandels unter uns Menschen, seinen Brüdern, ausmachen.

Jahre im Schatten, für uns aber klar wie Sonnenlicht. Oder vielmehr: strahlende Jahre, die unsere Tage erhellen und ihnen ihren wirklichen Sinn geben; denn wir sind gewöhnliche Christen, die ein normales Leben führen wie Millionen Menschen überall auf der Welt.“ (Christus begegnen, Nr. 14)

Zwei Schlußfolgerungen ergeben sich aus dieser Betrachtung des Lebens Jesu und des unergründlichen Geheimnisses der Wirklichkeit eines Gottes, der nicht nur Mensch geworden ist, sondern die menschliche Natur angenommen hat und in allem uns gleich geworden ist, außer der Sünde (vgl. Hebr. 4, 15) Allem voran die allgemeine Berufung zur Heiligkeit, zu deren Verbreitung Josemaría Escrivá entscheidend beigetragen hat, wie Johannes Paul II. in seiner Predigt der Messe zur Seligsprechung feierlich erklärt hat. Zum anderen - und das gibt diesem Ruf seinen konkreten Ort – die Erkenntnis, daß man unter der Führung des Heiligen Geistes durch das normale Leben zur Heiligkeit gelangt. Denn die Heiligkeit besteht gerade darin: den Alltag mit dem Blick auf Gott gerichtet zu leben, unser Leben im Licht des Evangeliums und im Geist des Glaubens zu gestalten.

„Diese unserer Welt ist gut“, so ruft er in einer Homilie aus, „denn sie ging aus den Händen Gottes hervor; erst die Beleidigung Adams, die Sünde des menschlichen Stolzes, zerstörte die göttliche Harmonie des Geschaffenen. Als aber die Fülle der Zeit gekommen war, sandte Gott Vater seinen eingeborenen Sohn. Dieser nahm durch den Heiligen Geist Fleisch an aus Maria der Jungfrau, um so den Frieden wiederherzustellen und den Menschen von der Sünde zu erlösen, ut adoptionem filiorum reciperemus (Gal 4, 5), damit wir zu Kindern Gottes würden, fähig, am göttlichen Leben teilzuhaben. So wurde dieser neue Mensch, dieser neue Stamm der Kinder Gottes (vgl. Röm 6, 4-5) dazu befähigt, die ganze Welt vom Chaos zu befreien und alles wiederherzustellen in Christus (vgl. Eph 1, 9-10), der alles mit Gott versöhnt hat (vgl. Kol 1, 20)“ (Christus begegnen, Nr. 183).

In diesem herrlichen Text werden die großen Wahrheiten des christlichen Glaubens (die grenzenlose Liebe Gottvaters, das ursprüngliche Gutsein der Schöpfung, das erlösende Werk Jesu Christi, die Gotteskindschaft, die Nachahmung Christi durch den Christen ...) angesprochen mit dem Ziel, das Leben des Christen zu erhellen, ganz besonders das Leben des Christen, der mitten in der Welt lebt, eingenommen von den vielfältigen und komplexen weltlichen Beschäftigungen. Die dogmatischen Perspektiven, die hierzu den Hintergrund bilden, werden auf die konkrete Existenz angewendet und diese wiederum drängt dazu, das Ganze der christlichen Botschaft erneut und unter anderen Vorzeichen in den Blick zu nehmen. So entsteht eine spiralförmige Bewegung, welche die theologischen Reflektionen mit einbezieht und stützt.

Aber wie ich vorhin bereits sagte, steht es mir nicht zu, mich dieser Aufgabe hier und jetzt zu stellen, sondern nur, eine Einführung zu diesem Symposion zu geben. So möge denn genügen, was ich bis hierhin gesagt habe. Es begleiten Sie meine Wünsche, daß diese Arbeitssitzungen, die die geistliche Botschaft von Josemaría Escrivá vertiefen sollen, zur weiteren Entwicklung der Theologie zum Wohl der ganzen Kirche beitragen mögen.