Herr, dass ich sehe!

Noch vor seinem Geburtstag hielt Gott für Josemaría eine Überraschung bereit, die sein Leben verändern sollte. Eines Morgens während der Weihnachtsferien sah er im Schnee die Abdrücke von zwei bloßen Füßen. Neugierig bleib er stehen...

In jenem Winter 1917 folgten in der ganzen Region La Rioja rauhe Tage mit trübem Himmel und klirrender Kälte. Seit Freitag, dem 28. Dezember fielen ununterbrochen, zwei Tage lang, kleine dichte Schneeflocken. Das neue Jahr begann mit eisigen Temperaturen, das Thermometer fiel auf fünfzehn Grad minus. Die Verkehrsverbindungen waren unterbrochen, die Marktstände mußten schließen, mehrere Menschen erfroren.

Ab 3. Januar räumten die Straßenfeger der Stadt zusammen mit eigens angeheuerten Tagelöhnern mehrere Tage lang den Schnee von Straßen und Bürgersteigen. Am 9. Januar, einem Mittwoch und Geburtstag von Josemaría, hatten sie ihre Arbeit, begünstigt durch Regenfälle am Vorabend, beendet. Die Kälte kehrte allerdings zurück, und der Schneesturm dauerte eine weitere Woche an.

Noch vor seinem Geburtstag hielt Gott für Josemaría eine Überraschung bereit, die sein Leben verändern sollte. Eines Morgens während der Weihnachtsferien sah er im Schnee die Abdrücke von zwei bloßen Füßen. Neugierig bleib er stehen, um die Fußspuren eines Mönchs genauer zu betrachten, und, bis ins Tiefste seiner Seele ergriffen, fragte er sich: Wenn andere solche Opfer für Gott und den Nächsten bringen, bin ich dann nicht fähig, auch etwas aufzuopfern?

Die Fußspuren im Schnee stammten von Pater José Miguel. Der weißen Spur folgend, ging der Junge zu dem Karmelitenpater und bat ihn um geistliche Leitung. Er trug bereits tief in seiner Seele eine ’göttliche Unruhe’, die sein Inneres durch ein intensiveres Frömmigkeitsleben, durch Gebet, Abtötungen und die tägliche Kommunion erneuern sollte. „Im jugendlichen Alter“, so äußerte er später einmal, „senkte der Herr in mein Herz ein Samenkorn vibrierender Liebe ein.“ (...)

Im Rückblick entdeckte er, daß seit jenem Morgen, da er die Spuren im Schnee gesehen hatte, jemand ihn ohne Umschweife zur Liebe führte. Der Herr hatte ihn nach und nach darauf vorbereitet. Er hatte im eine ‚göttliche Unruhe’ in die Seele gelegt. Und so erkannte er, als er die Fußspuren im Schnee gewahrte und entdeckte, daß sie die eines Ordensmannes waren, in ihnen die Fußspuren Christi und gleichsam eine Einladung, ihm zu folgen. Aus dieser stummen Geste, aus diesen Fußspuren vernahm Josemaría einen Ruf. Auf der Stelle fühlte er sich kraft seiner inneren Großmut angespornt, sich selbst ganz hinzugeben. (...)

Es war bereits Frühling. In wenigen Monaten würden die Abschlußprüfungen sein, und das Abitur war nicht mehr weit. Angesichts dieser Lage mußte er eine Entscheidung treffen. (...) Er wählte das Priestertum, um ein Ideal zu verwirklichen. Da er nicht wußte, wohn seine Ahnungen ihn am Ende führen würden, sah er im Priestertum den geeigneten Weg, mit Christus eins zu werden. Nun lag es an Gott, ihm den weiteren Weg zu weisen. Von diesem Augenblick an sollte Josemaría aus dem Dunkel seines Glaubens wie der Blinde von Jericho sehnsüchtig zum Herrn flehen, ihm seinen Willen kundzutun.

„Mehrere Jahr lang, ab dem ersten Jahr meiner Berufung in Logroño“, schrieb er 1931, „hatte ich immer das Stoßgebet auf den Lippen: Domine, ut videam! Ohne zu wissen, warum, war ich der Überzeugung, daß Gott mich für etwas bestimmt hatte. Ich bin mir sicher, daß ich es so ein- oder mehrmals in Briefen an meine Tante Cruz (Schwester Maria de Jesús Crucificado) im Kloster Huesca geschrieben habe. Als ich zum ersten Mal jene Stelle von dem Blinden im Markus-Evangelium betrachtete, dem Jesus das Augenlicht schenkt, prägte sich mir der Ruf ‚Rabboni, ut videam’ fest ein, mit dem der Blinde auf die Frage Jesu, ‚Was willst du, daß ich für dich tue?’ antwortet. Und obwohl viele Menschen mir (wie dem Blinden) sagten, daß ich schweigen solle (...), wiederholte und schrieb ich ständig, ohne das Warum zu wissen: Domine, ut videam! Oder auch: Ut sit! Daß ich sehe, Herr, daß ich sehe! Daß es geschehe!“

Ausschnitte aus Vázquez de Prada, Der Gründer des Opus Dei, Bd. 1: Die frühen Jahre; Adamas Verlag Köln 2001; S. 92-97