Ein Mensch, der zu lieben verstand

Marlies Kücking, Philologin, Deutschland

"In den 27 Jahren, die seit seinem 'dies natalis' - dem Tag seines Heimgangs in den Himmel am 26. Juni 1975, vergangen sind, haben sich wohl viele Leute nach dem “Geheimnis” seines Lebens gefragt. Warum vermochte er die Leute so zu begeistern? Warum weckte er in den Leuten, die ihm zuhörten oder die seine Schriften lasen und immer noch lesen, die Sehnsucht zu Gott zurückzukehren, in ihm einen Vater, einen Freund zu sehen..., Menschen zu ihm zu bringen? Darauf kann es nur eine Antwort geben, und zwar, daß Josemaría Escrivá die Menschen wohl durch seine starke Persönlichkeit anzog, aber noch viel mehr durch seine Gottesliebe, die sein ganzes Leben bestimmte."

Dieses Zeugnis von Marlies Kücking, die seit 1964 in der Zentralleitung der Prälatur Opus Dei arbeitet, wurde anlässlich der Heiligsprechung in einem Artikel des “Osservatore Romano” veröffentlicht.

Ich hatte das große Glück, viele Jahre mit demjenigen zusammenzuarbeiten, der von nun an der heilige Josemaría Escrivá de Balaguer sein wird, und ich war Augenzeuge seiner Liebe und seiner Hingabe, seiner Treue zur Kirche und zum Heiligen Vater, seiner herzlichen Zuneigung zu seinen Kindern und allen Menschen, seines unermüdlichen Arbeitseinsatzes und seines beharrlichen Bemühens, die christlichen Tugenden zu üben.

Die ganze Existenz des heiligen Josefmaria war auf Jesus Christus, die große Liebe seines Lebens, ausgerichtet. In seinen letzten Lebensjahren wiederholte er oft die Worte des Psalmisten: „Vultum tuum, Domine, requiram! Dein Angesicht, Herr, will ich suchen!“ (vgl. Ps. 27,8). Ihn verlangte aus tiefster Seele, das Antlitz Gottes zu schauen. Dieser Wunsch war gleichzeitig die Quelle einer leidenschaftlichen Liebe zu allen Menschen, natürlich besonders zu seinen Söhnen und Töchtern. Er war ein Priester, der menschlich und übernatürlich zu lieben verstand. Seine Anwesenheit und seine Worte führten zu Gott und erreichten zugleich, dass sich die Menschen um ihn herum wohl fühlten. Man war gerne in seiner Nähe, weil man spürte, dass sein Interesse an allem echt war, sei es die körperliche und seelische Gesundheit, die Berufsarbeit, die Freundschaften, die Familie, die frohen Ereignisse wie auch die leidvollen...

In der Homilie «Mit der Kraft der Liebe» in Freunde Gottes machte er sich die Worte des heiligen Johannes zu eigen: «Der Eifer für dein Haus verzehrt mich» (vgl. Joh 2,17) und hob hervor, dass auch ihn der Hunger nach der Rettung der ganzen Welt verzehre. Der Herr hat das Opus Dei dazu ins Leben gerufen, den Ruf zur Heiligkeit neu zu beleben, der sich an alle Christen richtet, d.h. an die Männer und Frauen dieser Welt, die mit ihresgleichen das Gewebe der Gesellschaft bilden. Jede ehrbare Beschäftigung, die gewöhnliche Berufsarbeit des Laien, kann zu einem Dienst an der Kirche, am Heiligen Vater und an allen Menschen werden.

Der universale apostolische Horizont Josemaría Escrivás, eine Konsequenz seines Gründungscharismas und seiner persönlichen Antwort auf die Gnade, hat seine Wurzel im Evangelium selbst, im Beispiel und in der Lehre Christi. Oft sprach er über die eine oder andere Szene des Evangeliums und brachte dabei die unendliche Liebe des Erlösers allen Menschen gegenüber zum Ausdruck. Und noch häufiger betrachtete er sie in seinem Gebet. «Man kann das Gott-Mensch-Sein Christi von seinem Werk als Erlöser nicht trennen», schreibt er in Christus begegnen und fügt hinzu: «Das Wort wurde Fleisch und kam in die Welt, ut omnes homines salvi fiant (vgl. 1 Tim 2,4), um alle Menschen zu retten. (...) Unser Herr kam, um allen Menschen den Frieden, die Frohbotschaft und das Leben zu bringen. Nicht allein den Reichen und nicht allein den Armen. Nicht nur den Gelehrten und nicht nur den Einfältigen, nein, allen. Allen Geschwistern, denn wir sind Geschwister als Kinder desselben Vaters, als Kinder Gottes. Es gibt nurmehr ein Volk: das Vok der Kinder Gottes. Es gibt nur noch eine Hautfarbe: die Hautfarbe der Kinder Gottes. Und es gibt nur noch eine Sprache: eine Sprache, die zum Herz und zum Verstand spricht, ohne Worte, aber so, dass sie uns Gott erkennen lässt und uns anhält, einander zu lieben».

Seine Botschaft war - und ist - an alle Menschen gerichtet, ohne jeglichen Unterschied von Volk, Nationalität, Religion oder sozialer Schicht. Er verspürte den drängenden Wunsch, die Botschaft der universalen Berufung zur Heiligkeit, die das Opus Dei verbreitet, zu möglichst vielen Menschen gelangen zu lassen. Er hielt sich in vielen Ländern auf und besuchte ihre Großstädte wie London, Paris, Lissabon, Rom, München, Dublin... aber auch zahllose kleine Dörfer. Oft erwähnte er, dass er die Straßen Europas mit Ave Marias gefüllt habe. Aber die wichtigste „Reise“ unternahm er täglich in seinem Gebet vor dem Allerheiligsten, wo er dem Herrn seinen Durst nach Seelen und die apostolische Begeisterung seiner Söhne und Töchter auf der ganzen Welt darbrachte. Wenn er sich abends zurückzog, durchwanderte er in Gedanken die Weltkarte, bevor er einschlief: im Osten beginnend betete er den Herrn in allen Tabernakeln der Welt an, in den ihm bekannten, die sich in Kapellen der Zentren des Opus Dei befanden, und in den ihm unbekannten.

Heute spricht Seine Heiligkeit Johannes Paul II. Josemaría Escrivá de Balaguer heilig. Immer wenn die Kirche eines ihrer Kinder zur Ehre der Altäre erhebt, empfiehlt sie diesen Menschen den Gläubigen als lebendiges Vorbild. Es ist wie wenn sie zu jedem einzelnen sagte: “Du kannst es auch!“ Daher möchte ich zum Ende dieser Erinnerungen dem Heiligen Vater und der Kirche danken, und außerdem eine große Bitte an den neuen Heiligen richten: daß er uns anspornen und helfen möge, uns mit lebendigem Eifer um die Menschen zu kümmern und besonders denen, die mit uns zusammenleben, mit frohem Herzen und selbstlosem Einsatz zu dienen, um so der Welt die Botschaft des Friedens und der Freude Christi zu bringen.