Ein Leben für die Kirche

Kardinal Dr. Franz König+, ehemaliger Erzbischof von Wien; in: ‘Salzburger Nachrichten’, 22. Juni 1985

In den sechziger Jahren, während der Arbeiten des großen Zweiten Vatikanischen Konzils, war mir auf Grund meiner häufigen Reisen nach Rom vergönnt, engere Beziehungen zu Msgr. Escrivá de Balaguer zu knüpfen. Ich war sehr beeindruckt von seiner Persönlichkeit.

Eine liebenswürdige Kommunikationsfähigkeit kennzeichnete ihn, so dass er seinen Gesprächspartner sofort verstand und sich in ihn hineinversetzen konnte. Es handelte sich dabei aber nicht bloß um die Herzlichkeit eines Mannes, der gewohnt ist, sich dem Standpunkt des anderen gegenüber zu öffnen; man spürte dabei, dass seine von Herzen kommende Güte bei ihm tiefere Wurzeln hatte: sein übernatürliches Empfinden nämlich – seinen lebendigen, die ganze Persönlichkeit prägenden Glauben – und seinen alles durchdringenden apostolischen Eifer. Er sagte er habe keine Sorgen, sondern nur Besorgungen („no tengo preocupaciones, sino ocupaciones“). Und bald konnte man erkennen, dass beides in eins zusammenfiel: die Seelen, das Glück der Seelen und das Wachstum der Kirche. Im Gespräch mit ihm, der damals – wenn ich mich recht erinnere – Rom kaum verließ, konnte man die tägliche Sorge um alle Kirchen, von der Paulus spricht (vgl. 2 Kor 11, 28), gewissermaßen mit Händen greifen.

Verschobene Perspektiven

Vielleicht ist es von Nutzen, auf einige Besonderheiten dieser Zeit des Konzils hinzuweisen. (...) Die Kirche befragte sich damals über sich selbst und über ihre Heilssendung, und sie musste es tun in einer Welt, die immer mehr von Gleichgültigkeit gegenüber den geistigen Werten gezeichnet und bedroht schien. Und niemand wird leugnen, dass diese Selbstanalyse der Kirche bei vielen zu Unsicherheit, zu Schwankungen und, wenn man will, bei manchen zur Identitätskrise geführt hat.

Ich war beeindruckt, mit welchem Vertrauen, welch gelassener Sicherheit Msgr. Escrivá de Balaguer diesen Ereignissen gegenüber stand und wie er über sie sprach. Seine Bemerkungen waren knapp, realistisch, und trafen stets den Kern der Sache. Er begriff die Tragweite der Probleme, begeisterte sich für die sich auftuenden pastoralen Chancen und litt unter den Übertreibungen und den Vertrauensbrüchen gegenüber der Kirche. (...)

„Denken mit der Kirche“

Grundlage eines solchen aktiven und von Bußgesinnung getragenen Optimismus war sein felsenfester Glaube an die Kirche – allem zum Trotz, wie er zu sagen pflegte, d.h. über alles menschliche Versagen hinaus –, seine Überzeugung, dass das Schifflein Petri alle Stürme stets unversehrt überdauern wird. Er unterstrich, dass alle Christen und jeder einzelne von ihnen zur Ausbreitung des Erlösungswerkes berufen sind, dass es dazu aber als unabdingbarer Voraussetzung nicht nur des Sentire cum Ecclesia bzw. der vollkommenen Treue zur Lehre bedarf, sondern dass es notwendig ist, das ganze Leben auf Spiel zu setzen, d.h. radikal in der Kirche und für die Kirche zu leben. (...)

Die Auffassung von der Kirche als des in der Welt gegenwärtigen, erlösenden Christus ist nicht neu. Und doch war etwas Neues an der Art und Weise, wie Msgr. Escrivá de Balaguer sie verstand. Er ging ihr ganz auf den Grund und zog aus ihr unermüdlich sämtliche Konsequenzen. Obwohl er sich zum Beispiel in ungeheuchelter und einfacher Demut für einen Sünder hielt, war er sich zugleich dessen bewusst, dass er als Priester in persona Christi handelte. Und hier lag der Grund für sein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein: unter den Menschen personifizierte er auf geheimnisvolle Weise Christus. Wir sind Christus, der vorüber geht, sagte er einprägsam; wir sind Kirche.

Das Streben nach der Vereinigung mit Christus und folglich mit seinem mystischen Leib nimmt eine zentrale Stellung in der Verkündigung von Msgr. Escrivá de Balaguer ein. Er wollte jedem Christen, ja jedem Menschen zutiefst begreiflich machen, dass jeder einzelne dazu berufen ist, Glied der Kirche zu werden, dass alle dazu eingeladen sind, dem Leib Christi anzugehören, um in ihm eine ekklesiale Aufgabe zu erfüllen. (...)

Bild der Kirche

Wegen der Gründung des Opus Dei allein – das den Menschen die Wege der Heiligkeit im Umkreis ihrer täglichen Aufgaben erschlossen hat – sind wir Msgr. Escrivá de Balaguer zu besonderem Dank verpflichtet. Ich bin davon überzeugt, dass man im Laufe der Zeit in ihm nicht nur den Gründer sehen, sondern einen Mann erkennen wird, dessen Leben auch ganz die Maße des Bildes der Kirche widerspiegelt: Einen auserwählten Menschen, der – durch das Opfer seines Lebens und die Universalität seiner Lehre – zu einem Vorbild für uns alle geworden ist, ein Zeichen der ewigen Jugend der Kirche.