Der Adler am Ziel

Wie geheimnisvoll ist es doch, wie es der Kirche immer wieder gelungen ist und gelingt, wahre Gottesmenschen hervorzubringen, die schließlich „wie Adler fliegen, anstatt wie Hennen zu flattern“, wie es Josemaría Escrivá einmal ausgedrückt hat. Von ihm hat der Papst am 6. Oktober 2002 nach langer Prüfung unter einem strahlenden Himmel vor St. Peter vor einer Menschenmenge bis zum Tiber hin verkündet, daß der Spanier sich heute gewiß im Raum des Gottgefallens aufhält.

Heilig. Was heißt das? Kann Stephanus darüber Auskunft geben, der Diakon der judenchristlichen Urgemeinde auf dem Zionsberg, der zum ersten Märtyrer der Christenheit wurde, als er bei seiner Steinigung „den Himmel offen“ sah? Oder vielleicht St. Nikolaus, wie manche jener Kinder meinen mögen, denen heute noch von ihren Eltern von Heiligen erzählt wírd? Wer und was ist ein Heiliger?

Der erste, der von der Kirche feierlich „zur Ehre der Altäre erhoben“ wurde, war jedenfalls der kämpferische Bischof Ulrich, der im 10. Jahrhundert maßgeblich dafür verantwortlich war, daß der Sturm der Hunnen über Europa in einer Schlacht vor Augsburg sein gewaltsames Ende fand. Die Märtyrer, Bekenner und Kirchenlehrer der ersten Jahrhunderte kannten eine solche offizielle Einschreibung in „das Buch der Heiligen“ freilich noch nicht, um dennoch nach ihrem Tod ohne weiteres um ihre Fürsprache bei Gott und Hilfe in der Not angerufen zu werden.

Denn der erste Heilige überhaupt war der heilige „Dimas“, wie frühe Legenden jenen ansonsten unbekannten Verbrecher genannt haben, der am Kreuz von Jesus persönlich die Versicherung erhielt: „Amen, ich sage dir: heute noch wirst du mit mir im Paradies sein!“ Genauer läßt sich Heiligkeit auch heute noch nicht definieren.

Heiligkeit heißt: „mit Gott im Paradies sein“. Denn was die reine Biographie betrifft, kann auch ein Vegetarier am Schluß noch zum Metzger werden und umgekehrt. Oder ein Mann des Friedens zum Mörder. Das Beispiel des „heiligen Dimas“ zeigt deshalb auch exemplarisch, daß es nicht ein rundum gelungener Lebenslauf oder herausragende spirituelle Reife und Heldentaten sein müssen, die einen Menschen heiligen, sondern nur die letztendliche Nähe zu Gott – und daß Gott selbst sein letztes Wohlgefallen an einer Existenz offen und sicher bekundet.

Dieses Wohlgefallen hier schon objektiv festzustellen, dient die komplizierte Kanonisierung der römischen Kirche – bei dem Dimas es wohl schwer hätte, überhaupt vorgeschlagen zu werden (gäbe es nicht den überlieferten letzten Dialog mit Jesus). Kein Prüfungsverfahren darf man sich strenger, zeitraubender und aufwendiger vorstellen als eine solche Kanonisierung. Die Hürden, an denen der Prozeß zur „Feststellung der heroischen Tugenden“ auf vielen Stufen und Ebenen ergebnislos eingestellt werden kann, sind mannigfaltig. Für Manipulationen bleibt da wenig Raum.

Doch das ist nicht alles. Hat ein Kandidat oder eine Kandidatin dieses strengste Auswahlverfahren der Welt erfolgreich durchlaufen, muß das menschliche Urteil noch einmal vom Himmel selbst gegengezeichnet werden, bis es zu Ehre der Heiligsprechung kommt. Dafür sind mindestens zwei wohl dokumentierte und wissenschaftlich unerklärliche „Wunder“ notwendig, die sich nachweislich auf Fürsprache des Kandidaten als himmlische Intervention ereignet haben. Diese letzte Gegenzeichnung kann endgültig von keiner Lobby mehr beeinflußt werden.

Die Heiligen darf man sich deshalb gewissermaßen als den objektiven Kern der Kirche vorstellen. „Die Geschichte der Heiligen ist die wahre Geschichte der Kirche“, sagte deshalb auch schon Gerhard Tersteegen, den Rest könne man „getrost auf einen Karren laden und der Profangeschichte zustellen“. Zu der Einsicht dieses „Heiligen des Protestantismus“, wie Walter Nigg den niederrheinischen Pietisten des 18. Jahrhunderts einmal genannt hat, ließe sich noch vieles anmerken – wie überhaupt zum menschlichen Faktor innerhalb der Christenheit im allgemeinen und der römischen Kirche im besonderen. Denn man kann und muß den Bischöfen und Christen zu Recht ja vieles vorwerfen.

Um so geheimnisvoller ist es dennoch, wie es der Kirche immer wieder gelungen ist und gelingt, wahre Gottesmenschen hervorzubringen, die schließlich „wie Adler fliegen, anstatt wie Hennen zu flattern“, wie es Josemaría Escrivá einmal ausgedrückt hat. Von ihm hat der Papst am 6. Oktober 2002 nach langer Prüfung unter einem strahlenden Himmel vor St. Peter vor einer Menschenmenge bis zum Tiber hin verkündet, daß der Spanier sich heute gewiß im Raum des Gottgefallens aufhält.

Was Heilige aber in aller Regel an ihrem Adlerflug gehindert hat, war nicht nur die Schwerkraft. Das waren in aller Regel die lieben Mitchristen. Die meisten Heiligen waren deshalb umstritten, und alle erfuhren großen Widerstand, am meisten vielleicht die Ordensgründer (natürlich von anderen Orden). Alle standen sie im scharfen Gegensatz zu ihrer Zeit und dem Zeitgeist. Verwunderlich ist deshalb natürlich auch nicht die Kritik bei den Heiligsprechungen, die Papst Johannes Paul II. so häufig wie kein anderer Papst vor ihm vorgenommen hat, als könne er gar nicht genug davon bekommen, den Menschen unseres Zeitalters noch einmal das Zusammenspiel Gottes mit den Menschen in unsere Zeit vorzustellen.

Die seit Luther heiligenfeindliche protestantische Welt betrachtet die Verehrung des heiligen Franziskus oder Edith Steins, Johannes XXIII., Pater Pios, Juan Diegos oder Josemaría Escrivás natürlich dennoch weiterhin kritisch. Doch noch irritierter sehen wohl viele Katholiken, wie auch ihre evangelischen Mitchristen diesen Papst (Johannes Paul II.) inzwischen immer mehr als einen authentischen Sprecher der gesamten Christenheit akzeptieren, der sich in den letzten Jahren vor den Augen der ganzen Welt selbst in einen neuen Heiligen zu verwandeln scheint: in einen wahren Mann Gottes.

Artikel in Die Welt, Berlin 7.10.2002